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Freiheit für Links, Domain Names und ICANN.
5. Oktober 2000

vonDr. Patrick Mayer

(Dieser Beitrag wurde von Dr. Patrick Mayer für die Netzinitiative Freedom For Links verfasst und ist nunmehr hier veröffentlicht)

Seit wenigen Tagen läuft die weltweit und überhaupt erste Wahl zu einer Selbstregulierungsorganisation im Internet. Die Internet Corporation for Assigned Names and Numbers, kurz ICANN, hat sich 1998 daran gemacht, die von Jon Postel begründete und lange auch von dem Netzpionier der ersten Stunde verkörperteIANA (Internet Assigned Numbers Authority) abzulösen. ICANN soll für die Internet-Community über die Organisation des Domain Name System (DNS) entscheiden, Nummern für bestimmte Funktionsbereiche (Internet Standards, aber auch Portnummern) einheitlich vergeben und die Normierungsgremien IETF, W3C und andere bei ihrer Arbeit unterstützen.

ICANN basiert - nach langen Auseinandersetzungen - auf einer Vielzahl von Kompromissen: Netzgurus und Telekom-Giganten, Europäer und US-Regierung, DNS-Liberalisierer und Stabilitätsfanatiker mussten auf eine einheitliche Institution eingeschworen werden. Ganz nach dem Credo der Internet-Väter (ist eigentlich auch etwas über Mütter bekannt) "Rough Consensus and Running Code" soll ein funktionierendes weltweites Internet auf Grundlage eines groben Konsenses über die generelle Richtung der Entwicklung gesichert werden. Die US-Regierung behält sich weiterhin die Endkontrolle über ICANNs Aufgabenerfüllung und die in ICANN gesetzten Erwartungen vor. Der frühere Monopolist für die Vergabe von .com, .net und .org-Domains, Network Solutions Inc. (NSI), hat sich ein erquickliches Auskommen für die nächsten Jahre durch Vereinbarung von Lizenzgebühren für jede unter diesen TLDs vergebene Domain gesichert. Neu-Registrare, die auf den Markt drängen, fordern neue TLDs um jeden Preis. Palästina hat mit der eigenen Länder-TLD die virtuelle Unabhängigkeit schon erreicht, einige Zwergstaaten, denen ihre TLD irgendwie abhanden gekommen war, fordern von ICANN, sie den jetzigen Herren zu entziehen und ihnen zurück zu delegieren, und dieEU möchte auch möglichst bald über ein virtuelles Hoheitsgebiet verfügen.

In diesem Spannungsfeld - kommt es uns nicht irgendwie bekannt vor - bewegt sich ICANN wie in einem Minenfeld. Mit nur etwa einem Dutzend professionellen Mitarbeitern ausgestattet, soll ICANN die weltweite Stabilität des DNS sicherstellen und gleichzeitig für Wettbewerb bei den vorhandenen und die wettbewerbsorientierte Einführung neuer TLDs sorgen.

Immerhin - und das sollte nicht gering geschätzt werden - hat die US-Regierung durchgesetzt, dass ICANNs Verwaltungsrat nicht nur aus Industriekreisen beschickt wird. Der Verwaltungsrat besteht aus 18 Direktoren. Er wird vom ICANN-Präsidenten als 19. Mitglied kraft Amtes geleitet. Ursprünglich sollten neun der achtzehn Mitglieder unmittelbar von den Internet-Nutzern gewählt werden, nach viel Diskussionen werden jetzt zunächst nur fünf basisdemokratisch entsandt. Demgegenüber werden die restlichen Direktoren aus den drei"Supporting Organisations" (SO's) gewählt, die jeweils Interessenvertreter eines bestimmten Industriebereichs versammeln. Und während ohne viel Aufsehens die ersten Nachrücker auf diese in Zünfte-Manier besetzten Direktorenposten gewählt wurden, macht sich das Wahlvolk - im ICANN-Slang: die "At-Large-Membership" - auf den Weg zur elektronischen Urne: Nach einer umständlichen Registrierungsprozedur, in der jeder Internet-Mündige (ab 16 Jahren) Nutzer (Inhaber einer E-Mail-Adresse) sich als Wähler(in) registrieren konnte, und einer spannenden Nominierungsphase, bei der die KandidatInnen (teils von einem Nominierungskomittee durch ICANN selbst, teils durch die Wählerinnen und Wähler nnen im Wege der direkten Nominierung) benannt werden durften, läuft seit 2. und noch bis 10. Oktober die Wahl jeweils eines Direktors für Nordamerika, Lateinamerika/Karibik, Asien, Afrika und Europa.

Für Europa treten an:

Für die Region Europa stehen nach dem Nominierungs-Prozedere zwei Kandidatinnen und fünf Kandidaten zur Wahl. ICANNs Nominierungskomittee hat die SchweizerinMaria Livanos Cattaui, Generalsekretärin der Internationalen Handelskammer in Paris, vorgeschlagen; das Wahlvolk hat die Soziologin Jeanette Hoffmann vomWissenschaftszentrum Berlin dagegen gesetzt. Jeanette Hoffmann hat sich ebenso intensiv mit dem Normierungsgremium des Internet, der IETF, wie mit dem Usenet und dem Nutzen von Mailinglisten für die Wissenschaft befasst. Auf männlicher Seite ist die Spannweite noch gröŸer: von den Telekom-Vertretern Winfried Schüller (Deutsche Telekom AG) und Olivier Muron (France Télécom) über den NATO-Berater und Mazedonien-VerkabelerOliver Popov auf der einen Seite reicht die Spannweite überAlf Hansen, Direktor beim norwegischen NIC, bis zum Sprecher des Chaos Computer Clubs,Andy Mueller-Maguhn. Nach verhaltenem Auftakt hat der über Webseiten, Mailinglisten undDiskussionsforen geführte Wahlkampf zwischenzeitlich Aufsehen erregt und es bis in die Tagesschau geschafft - durchaus bemerkenswert bei einer deutschen Wählerschaft, die noch mit ca. 26.000 kaum den Umfang einer Kleinstadtbevölkerung erreicht.

Entscheidungskriterien aus unserer Sicht

Freedom for Links wird für keine der Kandidatinnen und Kandidaten eine explizite Wahlunterstützung aussprechen. Wir fordern vielmehr dazu auf, die Zielsetzung der Wahl zu bedenken und ihre Wahlentscheidung sorgsam anhand der verfügbaren Informationen abzuwägen. Folgende Kriterien halten wir für wichtig:

1. ICANN ist keine Regierung, sondern eine Art Verein. Die Anforderungen an die interne Demokratie von ICANN dürfen in dieser frühen Phase nicht überspannt werden. Dennoch fällt auf, wie groŸ die Probleme sind, denen ICANN gegenübersteht. Insbesondere die Mitgliederwahlen haben ICANN vor logistische Probleme gestellt, die überraschen. Immerhin hat die Organisation sich das Ziel gesetzt, die Stabilität des Internet sicherzustellen, ist aber nicht zur Organisation eines funktionierenden Wahlverfahrens in der Lage. Ein wichtiges Ziel muss daher die Schaffung besserer Arbeitsmöglichkeiten und gröŸerer logistischer Fähigkeiten bei ICANN sein.

2. Die At-Large-Direktoren sollen gerade nicht Interessen der Industrie, erst recht nicht einzelner GroŸkonzerne vertreten. Die At-Large Direktoren sind vielmehr berufen, die Interessen der Nutzer wahrzunehmen. Wir meinen daher, dass Industrievertreter oder auch nur -mitarbeiter in besonderem MaŸ gehalten sind, darzustellen, wie sie ihre Unabhängigkeit und Eigenständigkeit sichern wollen.

3. Technischer Sachverstand ist für die Arbeit bei ICANN fraglos nicht nur hilfreich, sondern erforderlich. Wir meinen aber, dass es dem Gremium gut täte, auch einige Personen in seiner Mitte zu haben, die das Netz nicht nur als faszinierendes Beispiel der Anwendung modernster Technik sehen. Zudem verdichtet sich der Eindruck, dass sich die ICANN bevorstehenden Herausforderungen gerade nicht auf technischem Gebiet abspielen, sondern dass für eine erfolgreiche Arbeit vor allem politisches und juristisches Geschick von Nöten sein wird.

4. Frauen sind sicherlich in ICANN nicht überrepräsentiert.

5. Der europäische Direktor wird - ebenso wie die Vertreter der anderen Kontinente - vor der Herausforderung stehen, als einzelner die Interessen eines höchst diversen politischen und kulturellen Raumes zu vertreten. Der europäische Direktor wird daher mit erheblichem Zeit- und Finanzaufwand reisen und Kontakte pflegen müssen. Wir meinen, dass schon aus der Aktivität der KandidatInnen im Wahlkampf deutlich wird, welche KandidatInnen zu diesen Opfern an Zeit und Karriere bereit sind und sich so weit wie irgend möglich dem Wahlvolk zu stellen. Die im Internet bestehenden Möglichkeiten zur Herstellung von Transparenz und Beteiligung müssen entwickelt, ausgebaut und genutzt werden.

6. Die Aufgaben von ICANN dürfen nicht aus dem Blick gelassen werden. Die Sicherstellung weltweiter Kommunikation verlangt, dass das Netz sich nicht in viele Teilnetze aufspaltet. Dazu ist Konsensbildung ebenso erforderlich wie eine möglichst fundierte Kenntnis der Protokolle und Techniken, die das Netz am Laufen halten. Ein Direktor sollte daher auch technisch ausgewiesen sein. Auch hier erscheint uns aber die Offenheit für Diskussionen und die Zugänglichkeit für den Input der Geeks von besonderer Bedeutung.

Wir wünschen eine gute und erfolgreiche Wahl!

Patrick Mayer


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