Das Internet ist ein kulturelles Phnomen ersten Ranges und lst derzeit als solches einen entsprechend heftig gefhrten Kulturkampf aus. Wer bestimmt die Spielregeln im weltweiten Netz, wer besetzt die lukrativsten Mrkte - so lauten die Kernfragen in der derzeitigen Diskussion. Bedauerlich ist, da in Deutschland in oft fast hysterisch anmutender Weise Debatten gefhrt werden, die von wenig Sachkenntnis zeugen. Das Internet als technisches System wird noch zu wenig verstanden; Rechtsprechung und Gesetzgebern stehen als Modelle der neuen, vernetzten Wirklichkeit immer noch zentralistische Systeme mit klaren Nutzer-Anbieter-Beziehungen vor Augen. Den sozialen und kulturellen Charakter des Mediums haben sie noch nicht hinreichend durchdrungen.
Praktische, technische Probleme werden in den nchsten Jahren auch auf das Recht durchschlagen. Die Internet-Gemeinde wird durch ihre abnehmende Homogenitt immer mehr auf Interessen- und Regelungskonflikte stoen. Fragen der Kapazittszuteilung und der technischen Weiterentwicklung z. B. durch offene oder proprietre Standards werden ebenso zu Rechtsfragen werden wie die Verbesserung der Netze einerseits und die dadurch entstehenden Fragen nach einer gerechten Kostenverteilung andererseits. Besonders gravierende Probleme - vor allem fr die Betroffenen - wird die Frage aufwerfen, inwiefern die strafrechtlich sanktionierten Grundstandards von Gesellschaften weltweit im internationalen Kommunikationsverkehr durchsetzbar sind. Dabei wird vordergrndig zu klren sein, wie weit Staaten ihre Strafgewalt ausdehnen drfen und wollen. Tiefer geht jedoch die Frage, zu welchen Anpassungen des weltweiten ethischen Standards das Internet beitragen kann, oder ob es auch hier zu einer Abwrtsspirale kommt. Schlielich ist denkbar, da durch technische Entwicklungen wie den PICS-Standard[59] das Internet in eine Vielzahl inhomogener, nur wenig durchlssiger Teilnetze zerfllt.
Insgesamt besteht die Gefahr, da Kommerzialisierung und Verrechtlichung von auen dazu fhren, da die faszinierendsten Merkmale der "ersten funktionierenden anarchistischen Gesellschaft" verloren gehen und von Inselbildungen und gegenseitiger Abschottung ersetzt werden. Das Konzept der freien Rede wird sich zwar weiter fortentwickeln; nicht absehbar ist aber, ob die "paradiesischen Zustnde" der Anfangszeiten des Internet nicht lngst Vergangenheit sind und auch nicht wiederkehren werden.
Tbingen, den 31. Januar 1997
(Patrick Mayer)
[59] Platform for Internet Content Selection, ein Standard, der vom World Wide Web Consortium (W3C) entwickelt wird und ein Protokoll zur einheitlichen Darstellung von Bewertungen von Internet-Angeboten darstellt. Mit diesen Bewertungen knnen beispielsweise Angebote ausgefiltert werden, die als jugendgefhrdend gekennzeichnet sind. Siehe unter http://www.w3.org/pub/WWW/PICS/